Jürgen Jessen-Thiesen ist seit 2009 Propst im Kirchenkreis Nordfriesland. Zuvor hat er als Leiter der landeskirchlichen „Arbeitsstelle für Reformumsetzung und Organisationsentwicklung“ den Nordelbischen Reformprozess organisiert. Nach 14-jähriger Tätigkeit als Gemeindepastor in Tellingstedt/Dithmarschen war er 6 Jahre als Personal- und Organisationsentwickler für die Kirchenkreise Dithmarschen und Rendsburg tätig. Jürgen Jessen-Thiesen ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.
Jericho. Ein blinder Mann namens Bartimäus sitzt am Wegrand, so erzählt die Bibel im Markusevangelium Kapitel 10. Als er hört, dass Jesus an ihm vorbeikommt, fängt er an zu schreien: Jesus, erbarme dich meiner. Viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen! Er aber schrie noch viel mehr.
Was würde ich schreien?
Ich möchte schreien über 70 Millionen US-Bürger, die trotz aller Lügen und Spaltereien dem ehemaligen Präsidenten ihre Stimme gegeben haben.
Ich möchte schreien über die rücksichtslosen Menschen auf Querdenken-Demos, die Corona-Einschränkungen ignorieren und die notwendige Solidarität vermissen verlassen.
Ich möchte schreien über AfD-Abgeordnete, die im Bundestag pöbeln und sich über die Pandemie-Maßnahmen der Regierung lustig machen.
Ich möchte schreien über die Gewalt in Belarus gegenüber Menschen, die Sonntag für Sonntag für eine demokratische Regierung auf die Straße gehen und selbst die Gefahr ihrer Festnahme in Kauf nehmen.
Ich möchte schreien, weil wir es trotz aller Anstrengungen und Beteuerungen immer noch nicht geschafft haben, den CO2-Ausstoß nachhaltig zu reduzieren.
Ich möchte schreien über die soziale Isolation, die nicht nur Alte und Kranke erleben, weil wir notgedrungen unsere sozialen Kontakte wieder auf das Notwendigste herunterfahren müssen.
Ich möchte schreien … aber ich schreie nicht laut. Vielleicht wegen der Stimmen der Vielen, die das unangemessen finden würden.
Bartimäus aber schrie noch viel mehr. Da blieb Jesus stehen und sprach: Ruft ihn her. Und zu Bartimäus sprach er: Was willst Du, dass ich für dich tun soll?
Diese Frage ist einer meiner biblischen Lieblingssätze. Jesus bleibt stehen. Er hört mein Schreien. Er nimmt mich wahr. Er ruft mich zu sich. Er fragt. Er gibt mir eine Stimme. Das Klagen wird verwandelt in ein Wollen. Was will ich eigentlich? Was will ich von Gott, von anderen, von mir selbst? Diese Frage nimmt mich in die Verantwortung. Aus dem hilflos schreienden Objekt wird ein sich seiner selbst bewusstes Subjekt.
Wir brauchen den Austausch über die Erfahrungen des letzten Jahres, über Bedrohungen, Ängste und Vergänglichkeit. Über Freiheit, Einschränkungen und Verlust. Über Gerechtigkeit, Solidarität und Zusammenhalt.
„Was brauchst Du?“ – so lautet das Jahresthema 2021 im Kirchenkreis Nordfriesland. Wie in jedem Jahr stellt der Kirchenkreis ein Jahresthema in den Fokus seiner kirchlichen und diakonischen Arbeit. Er nimmt damit aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen auf und mischt sich mit einer klaren Position in die öffentliche Debatte ein. Kirchengemeinden und Einrichtungen – gelegentlich auch Parteien und außerkirchliche Gruppen – greifen das Jahresthema des Kirchenkreises auf und setzen es in Veranstaltungen, Aktionen und Projekten um.
Vor dem Hintergrund der himmelschreienden Entwicklungen in den vergangenen Monaten werden wir 2021 immer wieder Menschen fragen: „Was brauchst Du?“ Trotz social distancing wollen wir im Gespräch bleiben. Wir brauchen den Austausch über die Erfahrungen des letzten Jahres, über Bedrohungen, Ängste und Vergänglichkeit. Über Freiheit, Einschränkungen und Verlust. Über Gerechtigkeit, Solidarität und Zusammenhalt. Wir wollen im Dialog bleiben mit denen, die in dieser Zeit besondere Verantwortung wahrnehmen, wollen Unsicherheiten aushalten und Resonanzen ermöglichen.
„Neben parlamentarischen Debatten wird mir der zivilgesellschaftliche Resonanzraum nicht genug gewürdigt“, schreibt Peter Dabrock, Theologe und Ethiker, der bis April 2020 Vorsitzender des Deutschen Ethikrates war in einer Debatte über die Corona-Gesellschaft in DIE ZEIT. „Die Politik hat so viel kommuniziert, höre ich dann. Kommunikation ist aber mehr als Erklären. Echte Kommunikation geh hin und her, nicht nur top-down. Diese Form der Kommunikation gibt es viel zu wenig. … Menschen sind die ersten Experten ihres Lebens … Warum also schalten nicht alle Regierungen von Bund bis Stadt moderierte Ideenbörsen und briefen darüber regelmäßig die Hausleitungen Dieses Potential ungenutzt zu lassen, ist fahrlässig … Denn die Stunde der Krise ist die Stunde der demokratisch legitimierten Politik – das heißt einer Politik, die der Zivilgesellschaft Resonanz gibt.“

Angesichts der Verzichts-Erfahrungen unter Corona-Bedingungen stellen wir mit unserem Jahresthema auch die Frage nach dem Wesentlichen und Notwendigen: „Was brauchst Du wirklich?“ Wir werden aus den Ressourcen unserer christlichen Fastentradition schöpfen. Sie versteht Verzicht nicht nur als Verlust, sondern weiß davon, dass Verzicht auch als Gewinn wahrgenommen werden kann, als Reduzierung auf das Wesentliche und als Loslassen vom Überflüssigen. Fragen nach Werten und nach dem, was das Leben lebenswert macht, nach Aspekten von Menschenwürde und der Balance zwischen zu viel und zu wenig werden hier ihren Platz haben.
Die Frage „Was brauchst Du?“ richten wir nicht nur an Einzelne, sondern auch an das kollektive Du, an uns alle. Es geht um unsere gesellschaftlichen Werte. Eine Gesellschaft, die sich danach ausrichtet, was Menschen brauchen, wird ein wirtschaftliches Handeln fördern, das sich am Gemeinwohl orientiert. Die Themen „Gemeinwohlökonomie“ und „Lieferkettengesetz“, die bereits im Kirchenkreis verankert sind, werden weitergeführt. Das Christian Jensen Kolleg, das als nachhaltige Bildungseinrichtung gemeinwohlzertifiziert ist, ist uns auf dem Campus in Breklum nicht nur bei diesem Thema ein unverzichtbarer Partner.
Die Corona-Bedingungen führen je länger desto mehr auch in existentielle Krisen. Menschen, die zu den sozial Benachteiligten gehören und Solo-Selbständige sind von den Einschränkungen besonders hart betroffen. In Bezug auf diese Gruppen stellt das Jahresthema „Was brauchst Du?“ die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit und nach dem diakonischen Handeln.
Die Stimmen der Moderaten, Vernünftigen und Abwägenden werden übertönt von denen der Schrillen, Hassenden und Radikalen.
Erstmals kommt unser Jahresthema als Frage daher. Mit Grund: Das Fragezeichen nimmt die Unsicherheit dieser Zeit auf. Wir wissen nicht, wie die Entwicklungen weitergehen. Wird es Verteilungskämpfe um Impfstoffe geben? Werden die Impfstoffe weitere Corona-Wellen vermeiden können? Wir brauchen heute etwas anderes als im März und werden im nächsten Jahr etwas anderes brauchen als heute. Es geht nicht um allgemeingültige Antworten, sondern um die jeweils situationsbezogene Frage: „Was brauchst Du jetzt?“, „Was braucht unsere Gesellschaft jetzt?“
Und selbst, wenn das Covid 19-Virus eines Tages aus der Welt ist, gibt es noch dieses andere Virus der Abgrenzung und Spaltung in Entweder-Oder, Wir-gegen-Die, Freiheit gegen Verantwortung, Nationalismus gegen Globalisierung, Ökonomie gegen Ökologie. Die westlichen Gesellschaften scheinen sich zurzeit in immer schnellerem Tempo zu spalten. Die Stimmen der Moderaten, Vernünftigen und Abwägenden werden übertönt von denen der Schrillen, Hassenden und Radikalen. Dieses Spalt-Virus befällt nicht nur Einzelne, sondern zerstört den Zusammenhalt der Gesellschaft und der Nationen, gefährdet Frieden und Gerechtigkeit und verhindert die gemeinsame Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung. Um dem entgegen zu wirken, werden wir weiterfragen müssen: Was brauchen wir, um die globale Solidarität zu stärken? Was brauchen wir, um einen nachhaltigen und respektvollen Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen zu praktizieren?
Schließlich fragt das Jahresthema auch nach den individuellen Ressourcen, die uns erst befähigen, die großen Themen anzugehen. Es fragt nach dem, was für mich jetzt dran ist und nach dem, was ich heute brauche, um meiner Berufung entsprechend zu leben. Es ist eine spirituelle Frage. „Was willst Du? Was kannst Du? Schau nach, was da ist, was in Dir steckt. Entdecke Deine Ressourcen und Stärken, Deine Kraft und Dein Vertrauen. Was brauchst Du – von Gott, von Deinen Mitmenschen, von Dir selbst?“
Es ist uns bewusst, dass dieses Jahresthema nicht ohne Risiko und Nebenwirkungen ist. Denn wir bekommen Antworten – wohlwollende, nachdenklich, kritische, aufrüttelnde, unbequeme. Sie werden uns anregen und – wenn es gut geht – auch verändern. Wenigstens haben wir uns fest vorgenommen, aufmerksam zuzuhören sowie uns berühren und verändern zu lassen. Resonanz erzeugt Wirkung. In der Bartimäus-Geschichte war es Heilung.