Utopien und Politik

Eka von Kalben

Eka von Kalben ist seit 2012 Fraktionsvorsitzende der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Schleswig-Holsteinischen Landtag und dort außerdem Fachsprecherin für Kita, Religion, Ehrenamt und Blaulicht. Die Diplomverwaltungswirtin, Geschichts- und Politikwissenschaftlerin wurde 1964 in Lüchow geboren und hatte ab 1985 diverse Funktionen in der Hamburgischen Verwaltung inne, bevor sie 2009 Landesvorsitzende ihrer Partei wurde und 2012 über die Landesliste in den Landtag einzog. Eka von Kalben hat drei Kinder und zwei Enkelkinder.

Selten habe ich als Politikerin so sehr mit Entscheidungen gerungen wie jetzt während der Corona-Pandemie. Welche Prioritäten muss ich setzen? Was wiegt an welcher Stelle mehr? Das Infektionsrisiko oder die Folgen von Einschränkungen? Wen schütze ich vor welchen Folgen?

Für uns in der Politik ist die Corona-Pandemie eine nie dagewesene Herausforderung. Insbesondere in den ersten Monaten mussten wir Entscheidungen im Staccato treffen.

Einerseits haben wir alle die Verantwortung, besonders vulnerable Gruppen zu schützen. Und das Leid, das wir in anderen Ländern gesehen haben, in denen das Virus – zumindest nicht rechtzeitig – ernst genug genommen wurde, kann hier niemand wollen. Andererseits mehren sich die Nachrichten bezüglich der negativen Folgen der Corona-Maßnahmen – ökonomisch wie sozial. Ob Zunahme häuslicher Gewalt, Vereinsamung älterer Alleinstehender, Kinder, die von Bildungschancen noch mehr abgehängt wurden oder Menschen, die um ihre wirtschaftliche Existenz bangen – all dies lässt mich alles andere als kalt.

Für uns in der Politik ist die Corona-Pandemie eine nie dagewesene Herausforderung. Insbesondere in den ersten Monaten mussten wir Entscheidungen im Staccato treffen. Ich selbst war fast täglich in Abstimmungsrunden mit dabei und kann aus eigener Erfahrung sagen, dass keine Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Maßnahme leichtfertig gefällt wurde. Natürlich, jetzt – mit einigen Monaten Abstand – gibt es Entscheidungen, die wir so nicht noch einmal treffen würden. Prioritäten, die wir anders setzen würden. Dinge, die wir aus den ersten Monaten der Corona-Krise gelernt haben.

Aber während wir mittendrin gesteckt haben, war es nicht möglich, anzuhalten, einen Schritt nach hinten zu treten und die Situation in Ruhe zu betrachten.

Ebenso wenig war es in dieser Zeit möglich, den Weitblick zu wahren und Utopien zu entwickeln. Das ist ein großes Problem in Krisenzeiten, in welchen die „Jetztprobleme“ so sehr dominieren, dass viele Zukunftsentscheidungen, die mindestens genauso gravierende Folgen haben, Gefahr laufen, unter den Tisch zu fallen.

Gerade als Politikerin muss ich Visionen haben, so utopisch ihre Umsetzung auch sein möge. Geben sie mir doch eine Leitlinie, an welcher sich mein politisches Handeln orientieren kann und muss.

Nun werden sich einige vielleicht fragen, ob Utopien in der Realpolitik überhaupt einen Platz haben. So hat Helmut Schmidt mal gesagt, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen und nicht in die Politik. Nun, ich könnte nicht stärker widersprechen. Gerade als Politikerin muss ich Visionen haben, so utopisch ihre Umsetzung auch sein möge. Geben sie mir doch eine Leitlinie, an welcher sich mein politisches Handeln orientieren kann und muss. Natürlich, Politik ist kein ruhiges Fahrwasser – das ist nicht nur in der Corona-Krise zu spüren. Es gibt viele Untiefen, plötzliche Strömungen und Turbulenzen. Und diesen gilt es Beachtung zu schenken. Aber gleichzeitig ist es unerlässlich, sich nicht vollständig ablenken zu lassen und den Blick zum Horizont nicht zu verlieren.

Utopien sind zum einen etwas sehr Individuelles, da sie stark mit den eigenen Werten zusammenhängen. Zum anderen ändern sich Utopien auch mit dem Zeitgeist.

Breklumer Utopien heute unterscheiden sich beispielsweise deutlich von denen vor 150 Jahren. Und das ist gut so. Denn obwohl die Missionare und ihre Frauen mit ihrer christlichen Utopie damals sicherlich meinten, Gutes zu tun, wissen wir heute – dank der vorbildhaften Aufarbeitung der eigenen Geschichte in Breklum – dass diese Geschichte auch ihre Schattenseiten hat. Da ist mir das heutige Verständnis christlicher Nächstenliebe in Breklum doch deutlich lieber – zum Beispiel, wenn ich an die Jesidinnen denke, denen Sie bei sich ein sicheres Zuhause gegeben haben.

Meine Vision einer besseren Zukunft mag utopisch sein. Aber trotzdem ist es diese Vision, die mein politisches Handeln antreibt.

Auch ich habe eine Vision. Die Vision von einer Zukunft, in der es keine Kriege gibt, in der niemand Hunger leiden muss, in der sich nicht einige wenige Menschen auf Kosten vieler anderer bereichern. Einer Zukunft, in der Menschen nicht diskriminiert oder verfolgt werden, weil sie aussehen wie sie aussehen, glauben, woran sie glauben oder lieben, wen sie lieben. Und vor allem von einer Zukunft, in welcher wir die jetzt noch existente Schöpfung bewahrt haben werden und im Einklang mit der Natur leben, statt sie weiter auszubeuten. Eine Zukunft, in der wir den Klimawandel so stark aufgehalten haben werden, dass das Leben für alle Menschen lebenswert ist – in Schleswig-Holstein, Deutschland und der Welt.

Ja, meine Vision einer besseren Zukunft mag utopisch sein. Da mache ich mir nichts vor. Aber trotzdem ist es diese Vision, die mein politisches Handeln antreibt. Denn nur, weil die Vision in ihrer Gesamtheit utopisch ist, heißt dies nicht, dass wir nicht wenigstes Teile davon realisieren können. Ich bin Politikerin geworden, um noch einen stärkeren Beitrag zur Verwirklichung meiner Utopie leisten zu können, als mir dies als Privatperson möglich wäre. Und trotzdem ist nicht zu unterschätzen, was jede*r Einzelne von uns im Leben bewirken kann und vor allem, was wir als Gesellschaft bewirken können, wenn wir dies auch wollen.

Die Corona-Krise macht zwar vieles unplanbar, unvorhersehbar. Sehr vorhersehbar bleiben jedoch die Folgen der Klimakrise. Einer Krise, die nur mit viel Mut zu lösen ist und wenn wir alle unseren Teil dazu beitragen. Am 22. August war der diesjährige World Overshoot Day. Das heißt, die Welt hatte die natürlichen Ressourcen für das Jahr 2020 verbraucht. Jeder weitere Tag, an dem wir Ressourcen verbrauchen, geht zu Lasten der Zukunft und ist Raubbau an unseren Enkelkindern und ihren Kindeskindern. Dass in diesem Jahr weltweit mehr oder weniger der gesamte Flugverkehr und ein Großteil der Wirtschaft mehrere Monate lang lahm lagen und wir trotzdem noch über vier Monate auf Zukunftskosten leben werden, ist extrem beunruhigend. Und vor diesem Hintergrund scheinen so einige Maßnahmen, die von der Wirtschaft und Teilen der Gesellschaft als utopisch oder radikal bezeichnet werden, gar nicht so absurd zu sein.

Es gibt gute Gründe, sehr wohl optimistisch zu bleiben. Die weltweite Fridays-For-Future-Bewegung gibt Hoffnung.

Wenn man sich viel mit dem Klimawandel und seinen Folgen auseinandersetzt und wenn dann noch all die schrecklichen Zahlen und Bilder der Corona-Pandemie dazukommen, dann droht manchmal der Pessimismus die Oberhand zu gewinnen. Jedenfalls geht mir persönlich das so. Aber es gibt gute Gründe, sehr wohl optimistisch zu bleiben. Die weltweite Fridays-For-Future-Bewegung gibt Hoffnung. Und auch, wenn die Corona-Pandemie die Bewegung vorübergehend hat leiser werden lassen, gibt mir etwas anders Hoffnung. Nämlich, dass wir in dieser Krise feststellen konnten, dass sich die meisten Kinder und Jugendlichen in vielen Bereichen ganz selbstverständlich disziplinieren, wenn es um Solidarität geht. Ganz im Gegensatz zu manchen Erwachsenen.

Insofern gibt uns diese junge Generation sehr viel Hoffnung für eine solidarische Gesellschaft in der Zukunft. Eine Gesellschaft, die wir angesichts der noch auf uns zukommenden Krisen so dringend benötigen.