Ich bin nicht Wir.

Joachim Kretschmar

Joachim Kretschmar ist seit 2017 Studienleiter der Evangelischen Akademie der Nordkirche im Büro Breklum. Nach dem Studium der evangelischen Theologie in Kiel, München und Genf und Vikariat in Lübeck begleitete er zunächst am Institut für Wirtschafts- und Sozialethik (Marburg) die Pastor*innenbefragung der damals fusionierenden Nordkirche bevor er acht Jahre als Gemeindepastor in Kiel arbeitete.

Ich erinnere mich noch gut an das Gefühls-Wirrwarr beim ersten Lockdown im März: Die Mischung aus Furcht auf der einen und gespannter Erwartung auf der anderen Seite: Furcht, weil man nicht wusste, wie schlimm die Infektionswelle Deutschland treffen wird. Furcht auch, weil völlig unklar war, wie lange der Lockdown dauern wird, was er für meine Arbeit, aber auch für die Wirtschaft insgesamt bedeutet. Zur Furcht kam ein Gefühl ähnlich dem vor einem Aufbruch in ein großes Abenteuer: Wie bereiten wir uns auf Homeoffice und Heimunterricht vor? Sollten wir uns nicht doch bevorraten? Die ersten Zoom-Konferenzen für die Arbeit, dazu neue Familienrituale gegen den Lagerkoller. Regenbogen im Fenster, Abendsingen – all das machte mich, machte uns zum Teil einer Gemeinschaft: Wir zusammen gegen die Epidemie. Das „Wir“ wurde und wird beschworen im Kampf gegen Corona.

Von Beginn an gab es die Kritiker der Maßnahmen: Gegen Schul- und Ladenschließungen, gegen das Verschieben von Operationen, gegen Beschränkungen der privaten Kontakte. Manche Gegner des Lockdowns witterten das Ende der Demokratie, bestritten die Gefährlichkeit oder gar die Existenz des Virus. Und auch sie schufen sich ein Wir-Gefühl: Als eingeschworene Gemeinschaft, die wie das kleine gallische Dorf gegen die Übermacht der Herdentiere kämpft, die nicht sehen, wie sie in ihr eigenes Verderben rennen.

Zu diesem Wir-Gefühl war und ist es leicht auf Distanz zu bleiben: Zu viel Verschwörungserzählungen, zu viel Misstrauen und Ressentiments.

Regenbogen im Fenster, Abendsingen – all das machte mich zum Teil einer Gemeinschaft: Wir zusammen gegen die Epidemie.

Wann ich mich auch im „guten“ Wir nicht mehr wiederfand, kann ich nicht genau sagen. Ganz wunderbar beschrieben finde ich aber das „Panikflattern“, das sich irgendwann bei mir einstellte, im neuen Buch von Ijoma Mangold, dem Leiter des Literaturressorts der Zeit. In „Der innere Stammtisch“ kommentiert er das Weltgeschehen in Form eines Tagebuchs. Er beginnt im September 2019 und endet im April 2020. Für den 29. März schreibt er:

„[…] ich finde es unangenehm, wie auf Facebook Leute geblockt und abgestraft werden, die anderes tun, als das Mantra zu wiederholen, wonach es bei Exponentialkurven nicht um Meinung geht, sondern um bloßes Rechnen. Und wenn jemand sagt, dass er einen Shutdown von einem Jahr für unrealistisch halte, wird er nicht behandelt, als habe er in einer Abwägungsfrage eine Meinung vorgetragen, sondern als litte er unter einer Rechenschwäche.“

Mangold beschreibt das Unwohlsein mit seinen eigenen Überlegungen („Ich will doch weiter zum Drosten-Team gehören, ich möchte den Institutionen vertrauen.“). Er versucht seine Zweifel zu klären und ruft einen Freund an, bei dem er sicher ist, dass er seine Meinung nicht teilt. Das Gespräch beginnt scharf, Lagerzuweisungen, Unterstellungen. Und dann erzählt Mangold:

„Je länger wir reden, desto mehr nähern wir uns an. Unsere Stimmen verlieren ihre Schärfe. Wir liegen nicht mehr auf der Lauer. […] Man […] stellt schließlich fest, dass man sich zwar nicht in der Mitte, aber gewissermaßen im Maß beiderseitiger Ungewissheit trifft. Ungewissheit kann ein verbindender gemeinsamer Nenner sein.“

Wie weit trägt ein Wir-Gefühl, das auf die Gewissheit der eigenen moralischen Überlegenheit baut?

Seit dem Tagebucheintrag von Ijoma Mangold sind Monate vergangen und die Perspektive von heute ist eine andere als die vom Frühjahr diesen Jahres: Wir wissen, dass der erste Lockdown für die meisten Branchen kein Jahr anhielt, wir haben die relative Entspannung im Sommer erlebt und sehen nun seit Wochen wieder steigende Fallzahlen trotz eines „sanften“ Lockdowns. Manche Zweifel haben sich geklärt: Wir wissen viel mehr über das Virus. Wir wissen: der Impfstoff ist da – in England wurde gerade die erste Frau gegen Corona geimpft.

Geblieben ist mein Befremden über das Wir-Gefühl, das aus der Gewissheit entsteht, auf der richtigen Seite zu stehen. Noch immer ist meine Facebook-Timeline voll mit Einträgen, die Zweifel an der Sinnhaftigkeit mancher Schutzmaßnahme als unsolidarisch, egoistisch und dumm verunglimpfen. Selten wird argumentiert, gerne mit Lach-Smileys die andere Meinung als lächerlich gekennzeichnet. Karikaturen und Witze über die Dummheit der anderen Meinung stehen im krassen Widerspruch zu der ausgesprochenen Humorlosigkeit bei Witzen über die eigene Position – bei beiden Seiten des Meinungsspektrums. 

Die Gewissheiten des Wir-Gefühls sind geschwunden. Aber klar ist auch: Ohne Wir-Gefühl können wir nicht durch die Krise kommen.

Der Zusammenhalt wird weiter beschworen. Doch wie weit trägt ein Wir-Gefühl, das auf die Gewissheit der eigenen moralischen Überlegenheit baut? Stimmt es wirklich in der Pauschalität, dass der Wunsch nach mehr individueller Freiheit zeigt, „dass der Ethikunterricht an den Schulen in Deutschland versagt hat“, wie Harald Lesch im ZDF urteilte? Was soll man dem Restaurantbesitzer sagen, der im Sommer in eine Luftfilteranlage investiert hat und nun doch nur hoffen kann, dass sein Lieferservice angenommen wird? Verhalten sich zwei Familien mit je vier Kindern wirklich unsolidarisch, wenn sie sich an Weihnachten treffen und damit die in Schleswig-Holstein erlaubte Zahl von 10 Personen inkl. Kinder überschreiten? Ist es unredlich zu fragen, warum die Sommermonate nicht genutzt wurden, um Pflegeheime und Schulen besser auf den Winter und die erwartete zweite Welle vorzubereiten? Ist es wirklich so eindeutig, wie die Sehnsucht nach dem Schönen, die Sehnsucht nach Nähe und das Recht auf Selbstbestimmung ins Verhältnis gesetzt werden zum Lebensschutz?

Die Gewissheiten des Wir-Gefühls sind geschwunden. Aber klar ist doch auch: Ohne Wir-Gefühl können wir nicht durch die Krise kommen. Im Blog der Bertelsmann-Stiftung schreibt Peter Walkenhorst über die Länder in Asien, die die Corona-Krise bisher besonders gut überstanden haben:

„Diese Gesellschaften sind […] alle durch einen hohen Grad an Zusammenhalt gekennzeichnet. Zentrale Merkmale sind dabei starke soziale Netze, sehr hohes Vertrauen in die Mitmenschen und eine sehr hohe Akzeptanz von Diversität. Außerdem erzielen die Länder dieser Gruppe sehr hohe Werte beim Gerechtigkeitsempfinden und der Anerkennung sozialer Regeln.“

Es gehört zum Wesenskern der Religion, Mehrdeutigkeiten auszuhalten – und das in Gemeinschaft.

Vertrauen in die Mitmenschen und Akzeptanz von Diversität kann man nicht verordnen. Aber man kann sie üben und praktizieren: Indem man selbst Vertrauen entgegenbringt und nicht jede abweichende Aussage maximal unfreundlich auslegt, sondern als Zeichen von gelebter Diversität erträgt – selbstverständlich solange sie im Rahmen des demokratischen Spektrums bleibt.

Doch dieses demokratische Spektrum ist weit. Und es entfaltet sich zwischen zwei Polen: Dem Streben nach Gemeinschaft oder auch Kohäsion auf der einen und dem Aushalten von Mehrdeutigkeiten auf der anderen Seite: Ambiguitäten ohne den Zusammenhalt lösen sich in Beliebigkeit auf. Gemeinschaft, die keine Mehrdeutigkeiten mehr zulässt, wird fundamentalistisch. – Das stimmt für den Rechtsstaat genauso wie für Religionen. Der berühmte Satz des Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ lässt sich so auf die Herausforderungen der Corona-Krise und die Suche nach einem tragfähigen, nicht ausgrenzenden Wir-Gefühl anwenden: Es gehört zum Wesenskern der Religion, Mehrdeutigkeiten auszuhalten – und das in Gemeinschaft: Zum einen beziehen sich Religionen auf etwas Transzendentes, das nie abschließend beschrieben werden kann, nie eindeutig ist. Zum anderen lebt Religion von der Kommunikation, ja, im Kern ist Religion Kommunikation: zwischen Menschen und zwischen Mensch und Gott. Ohne Gemeinschaft gibt es keine Religion. (Dazu lohnt sich zu lesen: Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Reclam 2018)

Wenn in den Feuilletons diskutiert wurde, welche Bedeutung Kirche heute noch für die Deutung einer Krisenerfahrung haben kann – dann ist das eine Antwort: Die Gemeinschaft der Glaubenden kann Vorbild sein für ein neues Wir-Gefühl, das sich nicht über Ausgrenzung oder gar Abwertung der anderen, sondern über das Angenommensein definiert: Meine Sorgen, Ängste, Zweifel, Hoffnungen und Freuden sind nicht weniger, aber eben auch nicht mehr wert als die Sorgen, Ängste, Zweifel, Hoffnungen und Freuden des Andersdenkenden. Denn letzte Gewissheit gibt es nicht. Nur das gemeinsame Ringen um den richtigen Weg für eine Zukunft, gelingend und gut, nicht nur für die, die sich auf der richtigen Seite wähnen, sondern für alle. Weihnachten werden wir in den Kirchen daran erinnert, wenn der Engel sagt: Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird.