Carmen Rahlf ist Pröpstin im Kirchenkreis Schleswig-Flensburg.
Langsam verlieren wir die Beherrschung. Im doppelten Sinne. In der letzten Zeit treffe ich zunehmend auf Menschen, die im Umgang mit Corona und all den Folgen die Contenance verlieren. Sie fühlen sich ihrem Alltag nicht mehr gewachsen, fallen in depressive Löcher, sind wütend, wollen ihr gewohntes Leben zurück. Das sind keine Corona-Leugner oder besonders ängstliche Typen, sondern ganz taffe, vernünftige Leute, die sich nun seit Monaten um ein regelkonformes Leben bemühen. Es sind Leute, die schon viele Krisen in ihrem Leben bewältigt haben, die allem immer irgendwie auch etwas Gutes und Sinnvolles abgewinnen können. Aber im Moment kommen sie an ihre Grenzen. Sie fragen, wie soll das weiter gehen, wann hört das denn mal wieder auf? Den ganzen Tag diese Konfrontation mit dieser nicht fassbaren Gefahr. Kinder werden zu potentiellen Gefährdern ihrer Großeltern (was für eine Botschaft!!), Alte und Kranke werden isoliert und vom Leben der anderen abgeschnitten. Die ganzen alltäglichen verbindenden Gesten: einander die Hand zu geben, mal jemanden einfach in den Arm zu nehmen oder ihr nur die Kaffeetasse weiter zu reichen oder ein Stück Schokolade abzubrechen werden zum Problem oder müssen wir uns verkneifen. Und ein Ende ist nicht abzusehen.
Wir verlieren langsam die Beherrschung und das, weil deutlich wird, dass wir die Beherrschung, (im Sinne dass wir das Leben beherrschen) verlieren.
In ihrem Buch „ Das Leben als letzte Gelegenheit“ beschreibt Marianne Gronemeyer die Auswirkungen der Pest auf die Moderne. Die Sehnsucht nach der umfassenden Sicherung unseres Leben, der Versicherung vor bösen Überraschungen und vor der gefährlichen (für uns Menschen! gefährlichen) Eigenmächtigkeit der Natur hatten ihre Unterwerfung, ihre totale Verzweckung und Nutzbarmachung zur Folge. Es geht um die Beherrschung der Natur. Und- es geht um die Beherrschung des Todes! Fast schien es doch schon so, als hätten wir alles im Griff. Die Entwicklungen der Medizin, der Technik und vieler Wissenschaften sind enorm. Es gibt keine noch so kleinen oder großen Systeme, zu denen wir mit der Zeit nicht vordringen, sie verstehen lernen, sie nachbauen, ersetzen, ja verbessern können. Denn besser wird die Welt doch erst, wenn sie durch unsere Hand und unseren Verstand gegangen ist. Dafür hat Gott sie uns doch gegeben – Hände und Verstand – und die Welt auch!?
Und nun kommt so ein kleiner unscheinbarer Virus daher und stellt sie in Frage – unsere Weltbeherrschung, unsere Fähigkeit, uns nach allen Seiten abzusichern. Statistiken, Kurven, Wellen erwecken den Anschein wir hätten jetzt und hier alles im Griff.
Aber Leben ist und bleibt gefährlich, unberechenbar, vorübergehend. Die Natur folgt anscheinend doch ihren eigenen Gesetzen, ist eigenmächtig. Sie ist ja nicht unser Werk, sondern wir finden uns mit ihr in dieser Welt vor.
Aber unser absolutes Bedürfnis nach Sicherheit und die Zumutung unserer Endlichkeit und des Todes haben einen Keil zwischen uns und sie getrieben. Das göttliche Schöpfungswerk wurde reduziert auf Materie und Ressourcen. Und wir wurden zu Getriebenen, von uns selbst Getriebenen. Menschen, die ihr Leben beherrschen müssen, indem sie nicht nur die sie umgebende Natur unterwerfen, sondern in ständigen Selbstoptimierungsprozessen der eigenen Schwäche, dem Versagen, der Krankheit und schließlich dem Tod zu entfliehen versuchen. Und dabei verlieren wir unser Leben, den Augenblick, das Jetzt und Hier. Denn der Blick, die Hoffnung, das Streben ist immer schon auf ein Danach, ein Weiter gerichtet. Dem/der Einzelnen mag es vielleicht noch oder immer wieder anders gehen, aber als Kollektiv, in der Gesamtheit stehen wir an diesem Punkt und in der Gefahr, die Beherrschung (im doppelten Sinne) zu verlieren. Und wir spüren, dass das Konzept, dass der Mensch die Herrschaft an sich reißt, wohl doch nicht aufgeht. Schon längst dämmert uns dies in vielen Bereichen. Die Wunden, die wir der Natur geschlagen haben. Sind sie noch zu heilen? Die aufgescheuchten Seelen, weil wir einander zu Versuchskaninchen des Machbaren machen. Sind sie noch zu trösten? Die Achtung, die Bewunderung des nicht von uns Geschaffenen finden wir sie noch wieder? Lernen wir es Grenzen auszuloten, aber auch zu respektieren? Versteht mich nicht falsch. Es geht mir nicht um die Verteufelung jedweder Entwicklung. Es geht mir um die Achtsamkeit, darum dass wir erkennen, dass unser Bedürfnis nach totaler Sicherheit und Machbarkeit unseres Lebens (um uns vor bösen Überraschungen zu schützen) eine Gratwanderung ist und allzu oft über das Ziel hinaus schießt. Leben ist immer lebensgefährlich. Und Leben ist endlich. Und ich denke, es wird uns gut tun, wenn wir uns mit dieser Endlichkeit versöhnen. Und nicht nur mit der Endlichkeit, sondern auch mit der Zerbrechlichkeit dieses Lebens. Und damit geht es auch um Vertrauen. Was helfen einer Schwangeren beispielsweise immer mehr und immer differenzierte (z.T. auch gefährliche) Untersuchungen, die sie an den Rand ihrer seelischen Belastbarkeit bringen, weil sie signalisieren: Wir können dem Wachstum des Kindes in deinem Leib und all den vielen Möglichkeiten, die in diesem natürlichen Prozess liegen, nicht trauen. Wir müssen alles ausschalten, was Schaden und Abweichung von der Norm bedeuten könnte, weil weder ihr als Eltern, noch wir als Gesellschaft uns einer nicht absehbaren „Belastung“ durch dieses Kind aussetzten sollten. Es ist gut, dass es Untersuchungen gibt. Was ich nicht für gut halte, ist das Vorgaukeln totaler Sicherheit. Denn sie kann in eine Grenzwertigkeit dessen führen, was Eltern im Zuge des Machbaren medizinisch für notwendig und als unerlässlich „verordnet“ wird. Manchmal geht es bis zu deren totalen Erschöpfung und Verängstigung, sodass Vertrauen als Grundlage in das wachsende Leben kaum mehr Rolle spielt.
Aber Vertrauen in das Leben ist lebensnotwendig. Denn wir werden kein krisenfreies, unversehrtes, von Bedrohung freies Leben führen können, bei allen Anstrengungen, die wir dafür unternehmen.
Wir können aber ein Leben führen, in dem wir darauf vertrauen, dass es in seiner Unvollkommen- und Bruchstückhaftigkeit gehalten ist, dass uns in den tiefen Tälern der Angst und der Sorge Mut und Hoffnung geschenkt wird. Für mich findet sich in dem heute vielleicht etwas abseitigen Wort des „Gottvertrauen“ eine solche wunderbare Lebengrundlage. Ich tue mich schwer mit dem Gott, der alle einzelnen Wege und Winkel unseres Schicksals schon(unausweichlich) geplant haben soll. Aber leicht tue ich mich mit dem Gott, dessen schöpferische Energie, dessen Vollkommenheit und lebendige Kraft ich tausendfaltig erkenne. Und leicht tue ich mich mit dem Gott, der da ist in den schlaflosen Nächten, in meinen stammelnden Gebeten, in der Not meines Herzens und der mir schon auf tausendfache Weise Mut und Hoffnung, Kraft für den nächsten kleinen Schritt, Zuversicht in das Unbekannte gegeben hat. Zu all dem ist er mächtig und stellt mein Leben unter seine Zusage. Dieses Vertrauen brauche ich, will ich diesem Leben, wie es ist, zustimmen können und mich nicht von der Angst beherrschen lassen, die ich im Moment bei etlichen um mich herum bemerke. Hier im Christian-Jensen Kolleg haben wir einen Ort, an dem wir über all dieses intensiv miteinander ins Gespräch kommen können. Ein wichtiger und ein wohltuender Ort in diesen Zeiten. Darüber bin ich froh.