Prof. Jens Boysen-Hogrefe ist seit 2008 am Institut für Weltwirtschaft, Kiel – einem der sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute. Geboren wurde er 1979 in Rotenburg (Wümme), er studierte VWL in Heidelberg und Kiel, hier promovierte er 2008 über Konjunkturanalyse und –prognose. Seit 2011 gehört er dem Arbeitskreis Steuerschätzungen des Bundesministeriums der Finanzen an. Jens Boysen-Hogrefe ist verheiratet und hat 2 Kinder.
Das Utopia heißt „2019“
Oder: Aus der Pandemie können wir nichts anderes lernen als etwas über die Pandemie selbst
Morgen ist er da, der Impfstoff, der sofort und dauerhaft vor COVID-19 schützt. Er wird schnell, günstig und massenhaft produziert, so dass er innerhalb weniger Wochen weiten Teilen der Weltbevölkerung zur Verfügung steht. Die Angst hat ein Ende bei Risikopatienten, bei Pflegerinnen und Pflegern, bei Medizinerinnen und Medizinern und bei vielen anderen. Gottesdienste, Konzerte und andere Veranstaltungen treten aus dem digitalen Raum heraus. Indische Tagelöhner kehren wieder in die Großstädte zurück, in der Hoffnung ein Einkommen zu erzielen. Der Welthandel springt an. Die Industrie bekommt wieder Aufträge und vermutlich werden auch wieder Kreuzfahrtschiffe in See stechen und mehr und mehr Kondensstreifen am Himmel zu sehen sein. Warum nämlich sollte eine große Zahl von Menschen, wenn die Beschränkungen und die Angst vorbei sind, nicht wieder ähnlich denken, wünschen und streben wie vor der Corona-Krise?
Ein solch schnelles Ende der Corona-Krise ist vorerst nur eine Utopie. Doch was ist das für eine Utopie mit Tagelöhnern auf der einen Seite und mit gefüllten Kreuzfahrtschiffen auf der anderen, die vieles einfach nur wieder in das Jahr 2019 zurückkatapultiert und in der zu allem Überfluss mit dem Impfstoff der CO2-Ausstoß wohl auch wieder steigt? Sollte eine Utopie in der jetzigen Zeit nicht darauf setzen, dass die Krise vieles verändert? Die Krise als Chance?
Sollte mit der Corona-Krise der Welthandel weiter Schaden nehmen, wären viele arme Menschen die am stärksten Betroffenen.
Beispiel Globalisierung: Die Globalisierung des Wirtschaftens ist zweischneidig. Vielen Menschen hat der gestiegene Zugang zum internationalen Güteraustausch vorher nicht dagewesene Einkommensmöglichkeiten gegeben, für andere hat sich ihre Position verschlechtert. Auch wenn in den vergangenen Jahrzehnten die weltweite Armut trotz steigender Weltbevölkerung gesunken ist, fallen zwischen den Ländern und auch teilweise innerhalb von Ländern immense Wohlstandsunterschiede ins Auge. Sollte da nicht etwas anders werden? Ja, aber wie soll hier aus der Corona-Krise etwas Positives erwachsen? Durch den Einbruch des Welthandels verlieren viele Menschen in den armen Ländern ihre Einkommensquellen. Soziale Sicherungssysteme oder einen Staat, der Soforthilfen aushändigt, gibt es dort meist nicht. Auch wenn Textilarbeiter in Bangladesch im derzeitigen internationalen Wirtschaftsgeschehen übervorteilt werden, ist dessen Zusammenbruch die deutlich größere Katastrophe für sie. Sollte mit der Corona-Krise der Welthandel weiter Schaden nehmen, wären viele arme Menschen die zunächst am stärksten Betroffenen. Wirtschaftliche Entwicklung ist ein evolutionärer Prozess. Katastrophen helfen da beim Fortkommen nicht.
Auch wenn nun Klimapolitik unter dem Stichwort „Corona“ gemacht wird, gibt es keinen eigentlichen Bezug zwischen den beiden Themen.
Beispiel Klimawandel: Der CO2-Ausstoß ist mit der Krise deutlich gesunken. Vielleicht werden sogar über einige Jahre weniger Flugzeuge starten. Doch machen wir uns nichts vor: Der Klimawandel ist eine wirklich langfristige Herausforderung. Energiepreise sind derzeit so billig wie nie. Investitionen in energiesparende Technologien dürften derzeit weltweit unterbleiben. Was unterm Strich für den Klimaschutz herauskommt, ist unklar, aber vermutlich weniger als es uns gerade scheint. Immerhin, so könnte man meinen, hat der Staat in Deutschland dem Konjunkturpaket ein Klimapaket mitgegeben. Doch auch wenn nun Klimapolitik unter dem Stichwort „Corona“ gemacht wird, gibt es keinen eigentlichen Bezug zwischen den beiden Themen. Es sei dahingestellt, ob nun Investitionsprogramme oder eine bessere Regulierung zielführender sind, Klimapolitik wäre auch ohne Corona-Krise auf der Agenda gewesen.
Es ist vermutlich menschlich, Krisen und Katastrophen einen Sinn geben zu wollen. Optimisten neigen dann dazu, von Chancen zu reden, oder entwickeln Utopien; Pessimisten vermuten eine gerechte Strafe oder wittern vielleicht eine Verschwörung. Biblisch ist es allemal. Schließlich versuchten auch Hiobs Freunde ihm seine Lage zu erklären, seiner persönlichen Katastrophe einen Sinn zu geben. Wie aussichtslos das ist, können wir im Buch Hiob nachlesen.
Meiner Ansicht nach lernen wir aus der Pandemie über nichts anderes etwas als über die Pandemie selbst. Nichts über die Probleme, die vor der Pandemie bestanden und wohl auch nach ihr bestehen werden, und nichts über deren Bewältigung.
In diesem Sinne scheint mir die Utopie, dass die Pandemie morgen besiegt ist, die wirklich wünschenswerte zu sein, die mir im Zusammenhang mit der Pandemie einfällt. Denn je länger die Pandemie andauert, umso größer wird die Katastrophe weltweit und umso länger wird unser Blick auf die anderen großen und relevanten Themen verstellt.