Christian Ring, geboren 1976 in Kassel, ist seit 2013 Direktor der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde. Er studierte nach mehrjähriger Tätigkeit in einer Bank Kunstgeschichte und Philosophie an den Universitäten Kassel und Bonn. Von 2006 bis 2008 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Kunsthalle und promovierte über „Gustav Pauli und die Hamburger Kunsthalle“. Im Anschluss arbeitete er als wissenschaftlicher Volontär im Museum Giersch, Frankfurt a. M., und kam 2011 als stellvertretender Direktor nach Seebüll.
Gedanken zur Corona bedingten Digitalisierung in Kirche und Museum
Die Coronakrise hat das gesellschaftliche Zusammenleben u.a. in den Bereichen Museen und Kirche massiv verändert. Beide haben vermeintlich keine Systemrelevanz, wurden temporär geschlossen und konnten nur unter den bekannten Auflagen wieder öffnen. Seit Beginn der Pandemie haben sich beide Institutionen intensiv damit beschäftigt, auf welche Weise sie fortan ihr Publikum erreichen und mit ihm interagieren können, um den Kontakt zur Gesellschaft, den Mitgliedern und Freunden nicht zu verlieren: Wie lässt sich ein zielgruppenspezifischer und aktiver Austausch als Format der Teilhabe ins Digitale überführen oder aber im digitalen Raum erweitern? Diese Fragen sind nicht neu, es beschäftigt Kirche und Museen bereits seit vielen Jahren, wie analoge und digitale Formate miteinander verbunden werden können. Nun galt es aber ad hoc mit innovativen digitalen Dialog- und Austauschformaten auf die pandemiebedingte Situation zu reagieren, um den Kontakt mit der Zielgruppe bzw. den Gläubigen zu halten. Es galt andere Formen des Dialogs und des Austauschs zu finden und zu praktizieren, wenn der soziale Zusammenhalt, den Museen und Kirche in unserer Gesellschaft bilden, im Leben auf Abstand nicht gefährdet werden soll. Für beide Institutionen zeichnete sich ab, dass der digitale Raum dafür innovative Möglichkeiten bietet, die bislang nicht ausreichend ausgeschöpft oder umgesetzt wurden. Im Kontext der Pandemie mussten Formate zur Ansprache des bisherigen aber auch möglicherweise eines neuen Publikums erprobt werden. Vorhandene Angebote mussten weiterentwickelt werden und mit neuen digitalen Anwendungen galt es zu experimentieren, um vielfältige Formen der Interaktion mit dem Publikum und Teilhabe zu ermöglichen.
Der Gang in die digitale Welt wurde mit der Hoffnung verknüpft, auch die Menschen zu erreichen, die Gotteshäuser und Museen bislang nicht aufgesucht haben.
In der Praxis hing die Entwicklung und Umsetzung entscheidend mit der Größe, der personellen aber auch finanziellen und technischen Ausstattung der jeweiligen Institution zusammen. Gottesdienste wurden verstärkt live im Internet übertragen, ebenso wie Rundgänge durch Ausstellungen der Museen. Vieles, was zu Beginn leicht erschien, zeigte sich als technisch komplex und zeit- und kostenaufwändig. Der Gang in die digitale Welt der Museen und Kirche wurde mit der Hoffnung verknüpft, auch die Menschen zu erreichen, die in der realen Welt die Gotteshäuser und Museen bislang nicht aufgesucht haben. Die Hoffnung war groß, das Problem der rückläufigen Besucherzahlen in den Museen und den Rückgang der Gläubigen durch Kirchenaustritte zu bekämpfen. Doch hat die Praxis gezeigt, dass es eher die Bekämpfung des Symptoms war, als die Bekämpfung der Ursache.
Für den Bereich der Kultur wurden seitens der Bundesregierung millionenschwere Programme aufgelegt, um die Digitalisierung massiv zu fördern und die Angebote der Museen in den digitalen Raum zu verlagern. Der physische, reale Raum des Museums mit seinen besonderen Eigenschaften und Kosten geriet gleichzeitig aber aus dem Blickfeld, weil der digitale Raum mit seinen zählbaren Klicks vermeintlich mehr Menschen erreicht und an dem kulturellen Angebot teilhaben lässt. Aber ist es wirkliche Teilhabe?
Viele Museen wetteifern mit ihren Onlineprojekten, bei denen mit ein paar Klicks in den Suchmaschinen die Kunstwerke gefunden werden können. Völlig unabhängig davon, ob diese im Museum gerade ausgestellt sind oder nicht. Bei der Digitalisierung der Sammlungen sieht man im Digitalisat manchmal sogar mehr als im Original, was spannende Einblicke und Erkenntnisse ermöglicht. Alles ist durch die Digitalisierung zu allen Uhrzeiten und von allen Orten aus scheinbar möglich und erreichbar. Geht damit nicht aber auch der Zauber der Museen und das Erleben des Raumes, der allein der Kunst gewidmet ist, verloren? Und mehr noch, welche Bedeutung wird dem originalen Kunstwerk und dessen Einzigartigkeit und Zauber im direkten Kontakt noch beigemessen?
Wie verhält es sich mit der Sehnsucht nach dem Ort Kirche und dem gemeinsamen spirituellen Erlebnis?
Der Künstler Emil Nolde schreibt im Vorwort seines Testamentes über die von ihm geplante Stiftung, dass dort „der suchende, geistige Wanderer aus allen Landen, eine bescheidene, besondere Stätte finden [soll], wo ihm etwas Glück u. künstlerisch- geistige Erholung gegeben wird.“ Aber finden wir diese auch im digitalen Raum? Wo bleibt dort die Inszenierung der Werke, durch Beleuchtung, farbliche Gestaltung und Komposition der Anordnung der Werke im Raum? Natürlich kann dies bei einem digitalen Rundgang gezeigt werden, doch wirklich erlebbar kann dies nur im physischen Museumsraum werden, in dem die Menschen die direkte Begegnung mit dem Originalkunstwerk im Ausstellungsraum mit all ihren Sinnen aus verschiedenen Perspektiven erfahren, erleben und miteinander diskutieren können.
Dieses subjektive persönliche Erlebnis trifft auch auf die Kirche zu. Fernseh- und Internetgottesdienste, tägliche Gebetsimpulse oder Andachten, Seelsorge am Telefon, per Email oder Chat können in den durchlebten komplexen Zeiten der Pandemie auch Trost spenden. Es war ein zunächst scheinbar glücklicher Weg, die Gläubigen zu erreichen, auch wenn es keinen direkten persönlichen Kontakt gab. Wie verhält es sich aber mit der Sehnsucht nach dem Ort Kirche und dem Abendmahl und der daraus erwachsenden Kirchengemeinschaft durch das gemeinsame spirituelle Erlebnis?
Der Altar ist die Stätte an dem Himmel und Erde sich berührten, er ist der zentrale Ort der Gegenwart des gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Der Altar ist der Mittelpunkt, der Christus ist, um den sich die Gläubigen versammeln. Alle liturgischen Orte der Kirche sind hin geordnet auf den Altar als den wichtigsten Ort, an dem es zur Gemeinschaft kommt und an dem die Einzelnen zur Kirche werden. Gottesdienst ist die Dankesfeier der ganzen Kirche und keine Privatfeier eines einzelnen. Diese Aspekte gilt es im Bewusstsein der Digitalisierung wachzuhalten, damit die Kirche als ganze oder jeder einzelne nicht anfängt sich selbst zu genügen. Die Fokussierung auf den Altar und das sich selbst in Beziehung setzen kann nur in der Kirche gelingen.
Liegt heute für Kirche und Museen die Gefahr darin, noch mehr Menschen zu verlieren? Da die Menschen vor Corona aus lieb gewordener Tradition die Orte aufsuchten, nun aber erleben, dass ohne den üblichen Gang in Museum und Kirche ihnen vermeintlich nichts fehlt, da sie mutmaßlich alles im digitalen Raum erleben können? Oder liegt die Chance der Krise gerade darin, dass die Menschen das Durchleben des digitalen Raumes als unerfüllt erfahren und die Sehnsucht nach dem wahren und wirklichen emotionalen Erleben sowohl des spirituellen Geheimnisses der Kirche als auch der Singularität des Kunstwerks im Museum steigt?
Kirchen und Museen bleiben etwas Besonderes, denn sie arbeiten unmittelbar mit den Emotionen der Menschen.
Zukünftig gilt es, die Bedeutung des emotionalen und spirituellen Raumes für die Institutionen Museum und Kirche wachzuhalten und deutlich zu betonen, denn es geht um die Relevanz von Kunst und Kirche für unsere Gesellschaft. Es gilt im Bewusstsein aller Möglichkeiten aufzuzeigen, was der digitale Raum vermag, gerade aber auch, was er nicht vermag. Er kann den realen Raum nicht ersetzen, denn wir leben im realen Raum und der Besuch eines Museums oder eines Gotteshauses ist durch nichts Digitales zu ersetzen. Es ist der Gegenentwurf zum digitalen Raum, wo alles und immer greifbar ist. Das sich auf die Reise machen zu dem Museum oder Kirche, die Vorbereitung auf den Besuch bzw. die Teilnahme, zu klaren Zeiten bzw. Öffnungszeiten gehört dazu und ist Teil des Weges. Damit sind und bleiben die Institutionen aber auch etwas Besonderes, denn sie arbeiten unmittelbar mit den Emotionen der Menschen. Sie sind nichts Beliebiges, sondern etwas Kostbares, was es zu schützen und bewahren gilt.
Museen und Kirche können und müssen digital vermittelt werden, als zusätzliche Form, bsw. für diejenigen, denen aus gesundheitlichen Gründen die Reise verwehrt bleibt oder auch zur Information für diejenigen, die bislang kaum oder keinen Kontakt zu den Institutionen hatten. Auch betriebswirtschaftliche Gründe können Entscheidungsgrundlagen sein, die digitalen Angebote gegenüber den Analogen zu verstärken. Das Zentrum sollte das Museum und die Kirche bleiben. Kirchen und Museen sind für Menschen im wahrsten Sinne des Wortes physisch gebaut und sind nicht durch den digitalen Raum zu ersetzen, dieser kann nur unterstützen.
Für beide Institutionen gilt es in der Zukunft nah beim Menschen zu bleiben und diese emotional und spirituell zu berühren. Jeden Tag aufs Neue gilt es die gesellschaftspolitische Aktualität und Bedeutung der Institutionen für die Gegenwart aufzuzeigen. Die Zukunft von Kirche und Museum liegt aber auch in der Hand jedes einzelnen, ob die innige physische und psychische Auseinandersetzung mit dem originalen Kunstwerk im Museum gesucht wird oder die Gemeinschaft des Glaubens in der Kirche. Jeder Christ muss sich die Frage stellen: Wo und wie findet er den Ort, in dem sich seine Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft glaubwürdig ausdrückt? So kann es Museen und Kirche gelingen, Menschen nicht nur nicht zu verlieren, sondern zu gewinnen.