Kristina Kühnbaum-Schmidt ist seit 2019 Landesbischöfin der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland. Nach dem Theologiestudium in Göttingen und Berlin arbeitete sie zunächst als Hochschulassistentin für Neuere und Neueste Kirchengeschichte an der Kirchlichen Hochschule Berlin, bevor sie in ihrer Heimatkirche, der Braunschweigischen Landeskirche, ihr Vikariat machte und nach der Ordination die erste Pfarrstelle antrat. Nach Stationen u.a. in der Öffentlichkeitsarbeit und als Dozentin für Seelsorge am Predigerseminar wurde sie 2012 von der Landessynode der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland als Regionalbischöfin des Propstsprengels Meinigen-Suhl gewählt.
Mag sein, ich bin jetzt schon zu alt für Utopien. Für die Nicht-Orte, die zu träumen schön und zu leben schwer sind. Oder deren Verwandlung von Nicht-Orten in real existierende Orte mit einem Durchsetzungsfuror verbunden ist, der die Utopie eines besseren und schöneren Lebens schneller Lüge straft als die Träume davon es wahrhaben möchten.
Nun ja, ich gestehe es ein, so Utopie-skeptisch war ich nicht immer. Ich erinnere mich noch gut, während der ersten Semester meines Studiums im Göttinger Theologischen Stift mit leuchtenden Augen gemeinsam mit anderen Ernst Blochs „Geist der Utopie“[1] und dann sein „Prinzip Hoffnung“[2] nicht nur gelesen, sondern geradezu verschlungen zu haben. Bedarf nach positiven Utopien und dem ermutigenden Zuspruch, wir Menschen könnten die Welt für alle Menschen zu dem machen, was „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“,[3] gab es damals in den frühen 1980er Jahren genug. Atomare Aufrüstung und Umweltzerstörung – klar war: die Menschheit selbst gefährdet das Leben auf unserer Erde. Das brachte Proteste gegen Atomkraftwerke, militärische Aufrüstung und mit ihnen neue soziale Bewegungen wie die Friedens- und Ökologiebewegung hervor. Die evangelischen Kirchentage boten damals die Plattform zur Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Lebens- und Glaubensfragen. Sie waren umweht vom Geist der Utopie und einer Theologie der Hoffnung. Auch ich trug beim Kirchentag 1983 in Hannover unter dem Motto „Umkehr zum Leben“ eines der begehrten lila Halstücher mit der Aufschrift „Die Zeit ist da für ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen“.
Die Welt war kein Ort, an dem (utopische) Träume Wirklichkeit werden. Sie zeigte sich als Ort, wo Kriege tobten und Ungerechtigkeit Bestand hatte.
War mit dieser Umkehr zum Leben nicht genau das gemeint, was Blochs utopischer und zugleich programmatischer Heimatbegriff zu befördern suchte und was sich mit der Prophetie der Bibel ebenso traf wie mit der Parteinahme der Evangelien für die Armen und Ausgegrenzten? Und wenn jetzt nur alle … – aber die Welt war auch damals kein Ort, an dem (utopische) Träume Wirklichkeit werden. Sie zeigte sich vielmehr als Ort, wo Kriege tobten und Ungerechtigkeit Bestand hatte, voll mit menschengemachtem wie unerklärlichem Leid, eine Welt, in der Atomkraftwerke havarierten und bald darauf ganze politische Systeme in sich zusammenfielen. Eine Welt, in der öffentlich und unbestreitbar sichtbar wurde, mit welchen Verlusten an Freiheit und Menschenrechten so manche Träume von einer real existierenden Welt der freien Gleichen erkauft worden waren.
Was mich vom „Prinzip Hoffnung“ und dem „Geist der Utopie“ mit den Jahren zunehmend eher zum „Prinzip Verantwortung“ eines Hans Jonas[4], aber auch der Freiheitsschrift Martin Luthers geführt hat, das wäre jetzt einen längeren und eigenen Gedankengang wert. Bestimmt steht es im Zusammenhang mit meinem eigenen Älterwerden und dem mit einer sich weitenden Übernahme von Verantwortung (privat wie beruflich) ebenso gewachsenen Bedürfnis, mich nicht mit fordernden utopischen Träumen – poetisch und mit schönen Worten beschrieben – begnügen zu wollen, sondern den mühsamen Weg zu beschreiten, die Welt tatsächlich zu einem besseren Ort werden zu lassen. Weniger mit großer prophetischer Geste und stattdessen mit eher nüchternem Blick auf das, was wirklich möglich ist – um es dann auch möglich zu machen. Und mit der Einsicht für das, was vielleicht zu wünschen, aber eben (noch) nicht machbar ist. All das gespeist aus dem Vertrauen darauf, dass Gottes Macht und Kraft letztlich alles, wirklich alles für Menschen Böse in für sie Gutes verwandelt – für jede Einzelne wie für die ganze Menschheit, ja für die ganze Schöpfung. Und dass es unsere menschliche Aufgabe ist, daran mitzuwirken, ohne zu meinen, Gottes Wirklichkeit jetzt und hier als Produkt unserer Anstrengung verwirklichen zu können.
Am großen Gestus einer weit ausholenden Utopie liegt mir zunehmend weniger, umso mehr aber daran, konkrete Schritte gehen oder bewirken zu können.
„Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“, heißt der mich dabei begleitende Satz aus dem Römerbrief (Röm 12,2). Er stellt mich in eine Distanz zu dem, was ich vorfinde und ebenso in Distanz zu mir selbst. In Distanz zur Realität, in der ich lebe und an der ich mitwirke – in Kirche und Gesellschaft. Er lässt mich fragen nach dem, was im Blick auf diese Realität Gott wohlgefällig ist. Wo Gottes Augen sehen würden, was an Bösem mit Guten zu überwinden ist und wie dabei meine Mitarbeit – und auch die anderer Menschen, auch die der Kirche – aussehen kann. Und nicht zuletzt lassen mich die Worte dieses Bibelverses danach fragen, wo sich meine Haltung, meine Lebensführung, mein Glaube, mein ganzer Sinn erneuern, verändern und verwandeln lassen muss, damit Gottes Güte das Böse überwinden kann. So, dass das für Gott Gute, Wohlgefällige und Vollkommene nicht nur in meinem persönlichen Leben, sondern im Leben der Menschen auf dieser Welt, in Gottes Schöpfung insgesamt immer mehr Wirklichkeit werden kann. Am großen Gestus einer weit ausholenden Utopie liegt mir dabei zunehmend weniger, umso mehr aber daran, konkrete Schritte gehen oder bewirken zu können – sei es mit meinem persönlichem, möglichst an regional erzeugten Produkten orientiertem Einkauf, und ebenso mit dem Einsatz bspw. für ein Lieferkettengesetz oder für Erprobungs- und Ermöglichungsräume neuer Formen kirchlicher Arbeit und Verkündigung, sei es mit einem veränderten Verhalten im Blick auf Mobilität und (Dienst-) Reisen. Ganz nebenbei: Geflogen bin ich zuletzt vor über 20 Jahren. Es hat mir nichts gefehlt.
Die nicht perfekten Orte unseres zerbrechlichen Lebens sind die wahrhaft menschlichen Orte.
Wenn ich es mir genauer überlege, bewegen mich einige der Begriffe, die mich schon in Göttinger Studientagen begleitet und inspiriert haben – Heimat, Utopie, Hoffnung – noch immer. Aber anders, gewandelt. Heimat ist nicht mehr der utopische Ort, „der in alle Kindheit scheint und worin noch niemand war“, sondern vielmehr der konkrete Ort, an dem ich gebraucht werde. Heimat nicht als Herkunftsbegriff, auch nicht als uneingelöster Zukunftsbegriff, sondern als Gegenwartsbegriff: Heimat als Netz von Beziehungen, in das ich eingewebt bin mit meinen Gaben und Aufgaben, mit meiner Verantwortung, meiner Liebe und meinen Freundschaften – ein Netz, von dem ich abhänge und das (auch) von mir abhängt. In meinem Verantwortungs- und Lebensbereich daran mitzutun, dass, wie es der französische Philosoph Bruno Latour[5] sagt, alle Menschen auf dieser Erde landen und sich beheimaten können, gibt dabei genug zu tun. Die realen und nicht perfekten Orte menschlichen zerbrechlichen Lebens sind dabei eher meine Orte als die utopisch-vollkommenen Nicht-Orte der Sehnsucht. Denn die nicht perfekten Orte unseres zerbrechlichen Lebens sind die wahrhaft menschlichen Orte. Mit ihren Ambivalenzen und Widersprüchen. Zuweilen wunderbar und nahezu vollkommen, dann wieder bruchstückhaft und fragmentarisch. Weil vieles in unserem Leben eben auch widersinnig oder unsinnig, mindestens aber unverständlich ist und bleibt. Damit leben zu können und einen (nüchternen) Umgang damit zu finden, um dann das wirklich Notwendende zu tun, ist für mich die stets bleibende Herausforderung. So wie es der vor hundert Jahren in Lübeck geborene Philosoph Hans Blumenberg in Worte fasst: „Der Mensch ist zwar bedroht, aber nicht chancenlos“.
Freilich ist das nicht alles. Denn mich trägt tatsächlich noch immer und auch weiterhin das Prinzip Hoffnung – nicht mehr jenes, das aus dem Geist der Utopie geboren wird, sondern das höchst realistische Prinzip der Hoffnung auf Gottes Himmelreich: Ich vertraue auf die größere Kraft der Liebe Gottes gegenüber allem, was uns Menschen und der ganzen Schöpfung als Böses oder als Übel entgegentritt. Weil Gottes Liebe und Kraft nicht nur unsere Möglichkeiten übersteigt, sondern auch das, was wir zu tun, zu denken und sogar uns vorzustellen vermögen. Gottes Himmelreich und Gottes schöpferische Kraft, die alles Leben, die ganze Schöpfung in einen neuen Himmel und eine neue Erde verwandeln, Gottes unermüdliche Arbeit daran und unser Mitwirken dabei – für mich sind sie keine Utopie, sondern erfahrbare Realität. Ja, so ist es wohl: Ich bin nicht utopistisch. Ich bin realistisch, ich rechne mit Gottes Himmelreich.
[1] Ernst Bloch, Der Geist der Utopie, Werkausgabe Bd. 3, Frankfurt/Main 1985.
[2] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt/Main 1985
[3] Ebd., 1628.
[4] Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt/M. 1979.
[5] Vgl. Bruno Latour: „Das terrestrische Manifest“, Berlin 2018.