Corona Chancen

Dr. Jörg Herrmann ist Akademiedirektor der Evangelischen Akademie der Nordkirche. Er studierte Evangelische Theologie und Literaturwissenschaften in Marburg und Rom. Als Mitarbeiter und später stellvertretender Leiter des Amtes für Öffentlichkeitsdienst der Nordelbischen Kirche wirkte er u.a. bei der Entwicklung des Kalenders „Der Andere Advent“ mit. Im Jahr 2000 promovierte er mit dem Buch „Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film“ in Bochum, wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Lehrstuhl für Praktische Theologie bei Wilhelm Gräb und habilitierte dort 2005 mit einer religionsempirischen Arbeit zur Medienreligion. Ab 2006 war er für die Kulturdialoge im früheren Kirchenkreis Altona zuständig. Ab Ende 2007 leitete er den Neuaufbau der Evangelischen Akademie der Nordelbischen Kirche in Hamburg, die 2012 im Rahmen der Nordkirchengründung zur Evangelischen Akademie der Nordkirche mit Büros in Hamburg und Rostock wurde. 

Die Pandemie hat uns unsere Verletzbarkeit in Erinnerung gebracht. Das gilt für alle, ob reich oder arm. Und am meisten für die sogenannten Risikogruppen. Wir sind endlich und fragil, verletzbar und als Körper angreifbar. Wir erfahren uns in unserer Körperlichkeit bedroht, jede und jeder in seiner, ihrer eigenen Haut, dem Stück Natur, dem Teil der Schöpfung, das wir als Körper selbst sind. Wir mögen viel auf die Seele geben, auf Spiritualität und innere Werte. Ohne das Fundament des Körpers ist all das nichts.

Wir brauchen die Müllabfuhr, aber auf Gottesdienste und Theateraufführungen können wir eine Zeit lang verzichten.

Auf einmal gibt es eine Erfahrung, die alle teilen und die Menschen wieder verbindet, die sonst in getrennten Welten leben. Die Bedrohung durch das Virus hat darum manchmal über Klassen- und Milieu-Grenzen hinweg zu einem neuen Gefühl von Verbundenheit und Solidarität, von Menschlichkeit und wechselseitiger Abhängigkeit geführt. Auf einmal wurde dann auch deutlich, wie unverzichtbar und darum „systemrelevant“ die Arbeit von Verkäuferinnen und Verkäufern, Paketboten, Pflegekräften und Müllwerkern ist. Ihnen wurde eine Wertschätzung zuteil, wie sie ihnen wohl nie zuvor entgegengebracht worden war. Auch ist die Rede von besserer Bezahlung. Endlich einmal. Und viele „Schreibtischtäter“ konnten feststellen, wie wenig „systemrelevant“ die eigene Wissensarbeit unter Umständen ist. Es geht auch ohne. Jedenfalls zeitweise. Wir brauchen die Müllabfuhr, aber auf Gottesdienste und Theateraufführungen können wir eine Zeit lang verzichten.

Der Lockdown hatte uns temporär auf den Überlebensmodus heruntergefahren und neue Solidaritäten hervorgebracht, Nachbarschaftshilfen und Verbundenheit in der Erfahrung der Vulnerabilität. Zugleich zeichneten sich auch neue Spaltungen ab: auf der einen Seite waren die Systemrelevanten, die bis zum Umfallen arbeiteten. Im Krankenhaus, im Supermarkt. Auf der anderen Seite fanden sich die Schreibtischarbeiterinnen im Homeoffice, die Privilegierten der akademischen Berufe, die oft mehr Spielräume hatten und haben, um mit dem Homeschooling ihrer Kinder zurecht zu kommen und sie zu unterstützen. Aber dennoch, die wechselseitige Angewiesenheit wurde sichtbarer als sonst. Und die Gleichheit vor dem Virus spürbar. Ein Boris Johnson dankte seinen Pflegern, dass sie ihm das Leben gerettet hätten!

Die Situation erinnert ein wenig an das Bild von dem einen Leib und den vielen Gliedern, das Paulus im ersten Brief an die Korinther im 12. Kapitel verwendet. Paulus schreibt dort: „Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. (…) Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer. Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns schwächer erscheinen, die nötigsten; und die uns weniger ehrbar erscheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und die wenig ansehnlich sind, haben bei uns besonderes Ansehen; denn was an uns ansehnlich ist, bedarf dessen nicht. Aber Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben, auf dass im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder einträchtig füreinander sorgen.“

Der Shutdown von Konsumismus und Beschleunigung öffnet ein Fenster, einen Spielraum für das Überdenken des eigenen Lebens und Lebensstils.

Vielleicht lässt sich etwas von dem Füreinander-Sorgen, das durch Corona ausgelöst wurde, etwas von der Corona-bedingten Empathie-Verstärkung durch die gemeinsame Erfahrung der Verletzbarkeit beibehalten und in das Gedächtnis der Gesellschaft einschreiben. Die kirchliche Arbeit kann sicherlich dazu beitragen. 

Und es gibt etwas Zweites, was die kirchliche Arbeit unterstützen kann: das Überdenken des eigenen Lebens. Denn der Shutdown von Konsumismus und Beschleunigung öffnet ein Fenster, einen Spielraum für das Überdenken des eigenen Lebens und Lebensstils. „Pestzeiten“, schreibt Heinrich Bedford-Strohm, „waren immer auch Zeiten der Buße, der Umkehr und der Neuausrichtung.“ Und Neuausrichtung können wir gerade jetzt in der Tat gut gebrauchen, ja, sie ist dringend notwendig. Im Wortsinne: es gilt, eine existenzielle Not zu wenden und den Klimawandel zu begrenzen. Was wir dafür konkret brauchen, wird sehr gut in einem neuen Buch zusammengefasst, das ich Ihnen zur Lektüre empfehle. Es heißt „Unsere Welt neu denken. Eine Einladung“. Geschrieben hat es die Ökonomin Maja Göpel, Mitbegründerin der „Scientists for Future“. Es geht ihr um ein neues Modell des nachhaltigen und gerechten Wirtschaftens. Dafür muss man, so Göpel, ein paar heilige Kühe schlachten und sich von Mythen verabschieden, zu aller erst von der Überzeugung, dass ohne beständiges und dynamisches Wachstum die Wirtschaft zusammenbricht. Es geht auch anders. Und es muss im Übrigen auch anders gehen, denn ein Weiter-So würde unseren Planeten zugrunde richten, das macht Maja Göpel deutlich. Aber sie schwelgt nicht in der Krisendiagnose. Sie legt vielmehr einige Spuren in die Zukunft, auf lesbare Weise und ganz im Sinne dessen, was die Kirchen schon Anfang der 80er Jahre verabredet haben: nämlich sich nach Kräften einzusetzen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung.

Dr. Jörg Herrmann,
Akademiedirektor