Berührt werden

Nora Steen

Nora Steen ist seit 2018 theologische Leiterin und Geschäftsführerin des Christian Jensen Kollegs in Breklum. Sie studierte in Leipzig, Berlin und Göttingen evangelische Theologie, arbeitete viele Jahre als Pastorin in Hildesheim und lebte in Südindien, der Schweiz und in Portugal. Mit ihrer Familie genießt sie nun die nordfriesische Weite und das Leben in Schleswig-Holstein.

In den ersten Monaten der Corona-Epidemie haben unsere Kinder mit den Großeltern Umarmung auf Distanz praktiziert. Oma, Luftumarmung! Und die Arme wurden in die Höhe gerissen – aber die Masse an leerem Raum, die eineinhalb Meter zwischen Körper und Körper taten unerträglich weh. Die Erkenntnis: Luftumarmung geht nicht. Die Kinder mussten ihre Oma spüren, auf ihrem Schoß sitzen. Auch gegen die Vernunft. Es ging nicht anders. Nicht nur Kinder brauchen Körperkontakt. Wir alle. Jeden Tag.

Die Frau, die seit Jahren so krank ist, dass sie sich nicht unter die Leute traute, weiß, dass eine winzige Berührung ausreicht, damit sie geheilt wird. Sie tritt von hinten an Jesus heran und berührt mit ihren Fingern den Saum seines Gewandes. Und sie hat recht, es reicht. Jesus dreht sich zu ihr um und sagt: Dein Glaube hat dir geholfen.  

Mit der Welt in Beziehung stehen, dafür brauchen wir den Körperkontakt.

Wir sind eine Kirche des Wortes. Das ist gut protestantisch und so wahr wie richtig. Das Besondere des Wortes ist allerdings, dass es zwar durch intellektuelle Höhenflüge verstehbar wird, begreifbar jedoch nur, weil es sich materialisiert. „Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit“, heißt es im Prolog des Johannes-Evangeliums. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, dem sich der Staub des Wüstensandes zwischen die Zehen setzt.

Der Mensch Jesus wusste, dass sich die Sehnsucht der Menschen nach Gottesnähe, nach Heilung für Leib und Seele, nur dann erfüllen kann, wenn sie sich mit Haut und Haaren berühren lassen. Und er berührte die, die danach verlangten. Seine Fingerspitzen genügten, damit sich Gekrümmte aufrichten, damit Blinde sehend wurden.

Berührung ist wesentlich. Säuglinge, die nicht berührt werden, sind kaum in der Lage, sich seelisch gesund zu entwickeln. Die Haut als unser größtes Sinnesorgan ist unsere Kontaktfläche zur Welt. Sie lässt sich als „semipermeable Membran verstehen, die Welt und Subjekt miteinander in Beziehung setzt und sie wechselseitig empfänglich und durchlässig macht“ (Hartmut Rosa, Resonanz, 85). Mit der Welt in Beziehung stehen, dafür brauchen wir den Körperkontakt. Umarmungen führen dazu, dass wir gesünder sind. Die Abwehrkräfte werden gestärkt, das Herz schlägt gleichmäßiger. Pflegekräfte in Altenheimen oder Krankenhäusern wissen: Berührung ist durch nichts zu ersetzen.

Keine Maschine kann ersetzen, was wir Menschen füreinander sind.

Und nun ist uns seit vielen Monaten schleichend abhanden gekommen, was nicht nur selbstverständlich, sondern eben auch lebensnotwendig ist: Der Handschlag zur Begrüßung, die Umarmung zum Abschied, die kurze, selbstvergessene Berührung im Gespräch. Und ich merke, dass der Händedruck nicht nur unreflektiert tradierte Konvention war, sondern viel mehr als das. Er stiftete einen Beziehungsraum, der nun durch allerhand Körperakrobatik kompensiert werden soll.

Aber nicht nur im zwischenmenschlichen Alltag, auch in der Kirche verändert der coronabedingte Verzicht auf Berührung  das gesamte Miteinander. Beim Segen berühren die Handflächen Kopf oder Schulter. Dem Baby wird bei der Taufe mit den Fingerspitzen das Kreuzzeichen auf die Stirn gezeichnet. Dem Sterbenden wird die Hand gehalten. Nach dem Gottesdienst werden die Hände derer geschüttelt, die mit gebetet, gesungen und gehört haben.

Wir merken in diesen Monaten ganz besonders: Keine Maschine kann ersetzen, was wir Menschen füreinander sind und sein sollen. Resonanzwesen, die vom Mutterleib an auf Beziehung ausgelegt sind. Mit unserer Haut als Membran, die uns voneinander trennt und zugleich miteinander verbindet. Ohne taktile Kommunikation kommt uns eine wesentliche Ebene unseres Miteinanders abhanden.

Wir dürfen nicht die Erinnerung daran aufgeben, dass wir von der Berührung leben.

Corona lehrt mich: Ohne Berührung geht es nicht. Luftumarmung funktioniert nur begrenzt. Eine persönliche Segnung ohne Berührung lässt eine Lücke.

Also müssen wir noch aushalten. Wenige oder viele Monate oder Jahre. Oder. Aber diese zwei Dinge dürfen wir nicht: Die Erinnerung daran aufgeben, dass wir von der Berührung leben. Den Schmerz darüber vergessen, dass momentan vieles nicht möglich ist, was bis vor Kurzem selbstverständlich war.  

Aushalten, das kriegen wir hin. Auch, wenn es weh tut. Bis dahin einfach mal einen Baum umarmen, denn auch der gehört zu Gottes Schöpfung und braucht keinen Mindestabstand. Oder die Geschichten lesen, in denen Jesus nur durch die zarteste Berührung zwischen Haut und Haut heilt, was verwundet ist. Mir sagen lassen, dass das Wort Fleisch wurde und Mensch ist. Denn daran wird keine Epidemie der Welt etwas ändern.